Gestern und
heute
Eine Stimme - ein Klavier
El Tango de Astor Piazzolla
Die sieben Todsünden der Kleinbürger
La Chanson Francaise
Milva singt Brecht

PROGRAMM

Erster Teil

I. BALLATE/Balladen

1. La ballatta dell'agiatezza/Die Ballade vom angenehmen Leben (Musik: Kurt Weill)
2. Jakob Apfelböck (Musik: Bertolt Brecht)
3. La ballata della schiavitù sessuale/Die Ballade der sexuellen Hörigkeit (Musik: Kurt Weill)
4. Canzone dei Marinai/Der Matrosen-Song (Musik: Kurt Weill)
5. Ricordo di Maria A./Erinnerung an Marie A. (Musik: Bertolt Brecht)

Intermezzo musicale/Musikalisches Zwischenspiel
Secondo finale de L'Opera da tre soldi/Zweites Finale der Dreigroschenoper
"Soldati e bombe"/Der Kanonensong

II. GUERRA/Krieg

1. 3 Ninne Nanne/Drei Wiegenlieder (Musik: Kurt Weill)
2. La ballata di Maria Sanders/Die Ballade von der Judenhure Marie Sanders (Musik: Hanns Eisler)
3. Sotto le querce di Potsdam/Zu Potsdam unter den Eichen (Musik: Kurt Weill)
4. La ballata di chi vuole star bene al mondo/Ballade von der Billigung der Welt (Musik: Hanns Eisler)

Zweiter Teil

III. FIGURE FEMMINILI/Weibliche Figuren

1. Tango Ballade (Musik: Kurt Weill)
2. Bilbao Song (Musik: Kurt Weill)
3. La canzone di una giovane puttana/Lied eines Freudenmädchens (Musik: Hanns Eisler)
4. Il song di Mandelay/Der Song von Mandelay (Musik: Kurt Weill)
5. Surabaya Johnny (Musik: Kurt Weill)

- Änderungen vorbehalten -


Milva singt einen neuen Brecht
von Giorgio Strehler

Milva singt einen neuen Brecht ist ein Untertitel, der nicht als "Entdeckung" von Brecht oder Milva zu verstehen ist, vielmehr jedoch als eine Theaterarbeit, die allein auf Grund der Auswahl und der Reife einer Interpretin als neu bezeichnet werden kann. Tatsächlich repräsentieren von sämtlichen Gedichten, Liedern, Songs und Balladen von Bertolt Brecht, die über das weite poetische Werk des Autors verteilt sind und von denen manche sehr und andere weniger alt sind, einige lediglich Aspekte und Stimmungen, die dem Leser und Zuschauer bisweilen wenig geläufig oder unbekannt sind. Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, dass das Ausnutzen der Ideologien durch Brecht, das "Modische" zu manchen Zeiten, die Parteilichkeit des kritischen Diskurses, die Oberflächlichkeit der Analysen von fast allen, dass dies alles niemals oder beinahe niemals die Kenntnisnahme einer Komplexität, einer sehr hohen lyrischen Qualität, oder eine Weltsicht Brechts erlaubte, sodass es als neu erscheinen konnte, was aber nicht der Fall ist. Die Humanität Brechts, seine Melancholie für die vergehenden Dinge, seine Sanftheit, seine Liebe für die Wesen der Erde, seine Verachtung für die Niedrigkeit und Brutalität des Zusammenlebens, also insgesamt sein Anspruch, "die Stimme rau werden zu lassen", bestehen gemeinsam in einem großen literarischen Abenteuer des 20. Jahrhunderts, und das nicht nur auf dem Theater, das das ideale Erbe sein sollte, das uns der Dichter hinterlassen hat. Aus einer kultureller Schwäche heraus wollte man bloß die "raue Stimme" Brechts hören, lediglich den engagierten sowie politischen Aspekt sehen, und nicht jenen anderen, der auch politisch ist, aber der vom Leben als einem "komplexen Ding" singt, das widersprüchlich und flüchtig ist, worin sich die Leidenschaft der Geschichte, der Kampf gegen den Faschismus in seiner auch noch verstecktesten Form, jener des Kleinbürgertums, sich mit einem sehr reichen Empfinden des menschlichen Lebens vermischt. Die Bücher, Büchlein und skandalösen Artikel werden nicht an den zwölf oder dreizehn Bänden der Gesammelten Werke Brechts kratzen, die die Geschichte einer historischen Person bilden, vielmehr jedoch an der Geschichte eines Mannes und eines Dichters. Eines der höchsten Zeitgenossen.

Vielmehr muss man diese Bücher lesen. Man muss auch jenes lesen, das gern beiseite gelassen wird, mehr in die Tiefe blicken.

Die Aufführung hat beinahe einen Verlegenheitstitel, der einem seiner und von Weill vertonten Songs entnommen wurde: Non sempre splende la luna su di te (im Original: "Ewig nicht stehet der Mond über dir" aus: "Der Song von Mandelay"). Sie könnte auch einen anderen - vielleicht besseren - Titel haben: Se il salto in Cielo non ci é riuscito (im Original: "Konnt in den Himmel uns der Sprung nicht glücken" aus dem "Lied der Galgenvögel").


In seinen Beschränkungen der Zeit und der Umstände bietet dieser Titel eine "andere" Vision Brechts an, die mehr mit unserem vertrauten Bild verbunden ist und nur in diesem Sinn "neu" ist. Für uns, die wir überwiegend Schüler oder mit Brecht als Meister brüderlich verbundene Leute sind, der jedoch nie als Meister bezeichnet werden wollte, sondern als "einer, der Vorschläge macht", ist diese Sicht nicht neu, und als solche haben wir sie immer gekannt und geschätzt.

Der neue Brecht ist nur Brecht mit ein wenig mehr Wahrheit.

Denn gewisse Gedichte und "Lieder" - die eigentlich ursprünglich poetische Kompositionen waren und erst nachträglich in Musik gesetzt wurden - verblüffen aufgrund ihrer Aktualität und ihres Reichtums. Sicherlich wusste Brecht sehr genau in und über diese Gesellschaft des Wohlstands, des Faschismus, der ideologischen Kriege, des Untergangs vieler Mythen, des "realen Sozialismus", der nach ihm nichts weniger als real und daher ein "irrealer Sozialismus" war, hinaus zu "sehen". Es würde genügen, bei seiner verblüffenden Intuition des ökologischen Desasters, der Zerstörung der Natur in unserem Jahrhundert, stehen zu bleiben, die wir für unsere Aufführung ausgeblendet haben. Damit lassen wir die Tür für weitere Ereignisse mit anderen Themen für die Zukunft offen.

Und dann ist da Milva. Nach Jahren gemeinsamer Arbeit hat Milva alleine ihren Weg fortgesetzt. Wir haben uns nicht verloren. Aber wir haben uns selten gesehen. Sie heute wiederzufinden und mit ihr zusammenzuarbeiten war eine erneuerte Freude. Die Zeit lässt jene reifen, die die Möglichkeit zu reifen haben. Milva ist mir viel reicher erschienen, verfügbarer, mehr in Frieden mit sich selbst. Auch sie ist, in dieser Hinsicht, neu. Und der Abend bekommt durch sie und mit Brecht den Sinn der Entdeckung "einer anderen Milva", die sich nicht selbst verleugnet; diese Entdeckung jedoch verfeinert sie, lässt sie ein wenig von Ferne betrachten, zuweilen ironisch, manchmal mit Zärtlichkeit. Ihre Arbeit entsteht im Zeichen von Bescheidenheit und Bewusstsein. Aber vor allem im Zeichen der Liebe für den Menschen und auch für die Kritik. Milva bietet uns Frauenportraits: manche davon sind entrechtet, Prostituierte, oder boshaft; andere wiederum sind zärtlich, rebellisch oder verzweifelt sowie Figuren verzauberter Frauen, die eine tiefe Zustimmung und großen Respekt verdienen. Ich schätze diese nüchterne Milva sehr, die gleichsam mit ihrem Selbstbild von früher kämpft. Es benötigt viel Mut und erkämpfte Reife, um das zu machen, was sie macht.

Daher kann tatsächlich Einiges in dieser Aufführung, die im Rahmen des BrechtFestivals unseres Piccolo Teatro stattfindet, neu wirken und erscheinen. Falls uns auch der Sprung in den Himmel nicht gelungen sein sollte - so haben wir es wenigstens versucht. Wie viele meiner Generation. Im Grunde möchte unser Abend Folgendes sagen: dass, wenn einem etwas nicht gelingt, man weiter versuchen muss, es zu tun. Es gibt nichts Anderes außerhalb dieses Planeten, sagt Brecht, und fügt hinzu: Und so ist es gemacht. Es ist nicht gesagt, dass es immer so gemacht werden muss.

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