Milva singt einen neuen Brecht
von Giorgio Strehler
Milva singt einen neuen Brecht ist ein Untertitel,
der nicht als "Entdeckung" von Brecht oder Milva zu verstehen
ist, vielmehr jedoch als eine Theaterarbeit, die allein auf Grund
der Auswahl und der Reife einer Interpretin als neu bezeichnet werden
kann. Tatsächlich repräsentieren von sämtlichen Gedichten,
Liedern, Songs und Balladen von Bertolt Brecht, die über das
weite poetische Werk des Autors verteilt sind und von denen manche
sehr und andere weniger alt sind, einige lediglich Aspekte und Stimmungen,
die dem Leser und Zuschauer bisweilen wenig geläufig oder unbekannt
sind. Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, dass das Ausnutzen
der Ideologien durch Brecht, das "Modische" zu manchen
Zeiten, die Parteilichkeit des kritischen Diskurses, die Oberflächlichkeit
der Analysen von fast allen, dass dies alles niemals oder beinahe
niemals die Kenntnisnahme einer Komplexität, einer sehr hohen
lyrischen Qualität, oder eine Weltsicht Brechts erlaubte, sodass
es als neu erscheinen konnte, was aber nicht der Fall ist. Die Humanität
Brechts, seine Melancholie für die vergehenden Dinge, seine
Sanftheit, seine Liebe für die Wesen der Erde, seine Verachtung
für die Niedrigkeit und Brutalität des Zusammenlebens,
also insgesamt sein Anspruch, "die Stimme rau werden zu lassen",
bestehen gemeinsam in einem großen literarischen Abenteuer
des 20. Jahrhunderts, und das nicht nur auf dem Theater, das das
ideale Erbe sein sollte, das uns der Dichter hinterlassen hat. Aus
einer kultureller Schwäche heraus wollte man bloß die
"raue Stimme" Brechts hören, lediglich den engagierten
sowie politischen Aspekt sehen, und nicht jenen anderen, der auch
politisch ist, aber der vom Leben als einem "komplexen Ding"
singt, das widersprüchlich und flüchtig ist, worin sich
die Leidenschaft der Geschichte, der Kampf gegen den Faschismus
in seiner auch noch verstecktesten Form, jener des Kleinbürgertums,
sich mit einem sehr reichen Empfinden des menschlichen Lebens vermischt.
Die Bücher, Büchlein und skandalösen Artikel werden
nicht an den zwölf oder dreizehn Bänden der Gesammelten
Werke Brechts kratzen, die die Geschichte einer historischen Person
bilden, vielmehr jedoch an der Geschichte eines Mannes und eines
Dichters. Eines der höchsten Zeitgenossen.
Vielmehr muss man diese Bücher lesen. Man
muss auch jenes lesen, das gern beiseite gelassen wird, mehr in
die Tiefe blicken.
Die Aufführung hat beinahe einen Verlegenheitstitel,
der einem seiner und von Weill vertonten Songs entnommen wurde:
Non sempre splende la luna su di te (im Original: "Ewig nicht
stehet der Mond über dir" aus: "Der Song von Mandelay").
Sie könnte auch einen anderen - vielleicht besseren - Titel
haben: Se il salto in Cielo non ci é riuscito (im Original:
"Konnt in den Himmel uns der Sprung nicht glücken"
aus dem "Lied der Galgenvögel").
In seinen Beschränkungen der Zeit und der Umstände bietet
dieser Titel eine "andere" Vision Brechts an, die mehr
mit unserem vertrauten Bild verbunden ist und nur in diesem Sinn
"neu" ist. Für uns, die wir überwiegend Schüler
oder mit Brecht als Meister brüderlich verbundene Leute sind,
der jedoch nie als Meister bezeichnet werden wollte, sondern als
"einer, der Vorschläge macht", ist diese Sicht nicht
neu, und als solche haben wir sie immer gekannt und geschätzt.
Der neue Brecht ist nur Brecht mit ein wenig mehr
Wahrheit.
Denn gewisse Gedichte und "Lieder" -
die eigentlich ursprünglich poetische Kompositionen waren und
erst nachträglich in Musik gesetzt wurden - verblüffen
aufgrund ihrer Aktualität und ihres Reichtums. Sicherlich wusste
Brecht sehr genau in und über diese Gesellschaft des Wohlstands,
des Faschismus, der ideologischen Kriege, des Untergangs vieler
Mythen, des "realen Sozialismus", der nach ihm nichts
weniger als real und daher ein "irrealer Sozialismus"
war, hinaus zu "sehen". Es würde genügen, bei
seiner verblüffenden Intuition des ökologischen Desasters,
der Zerstörung der Natur in unserem Jahrhundert, stehen zu
bleiben, die wir für unsere Aufführung ausgeblendet haben.
Damit lassen wir die Tür für weitere Ereignisse mit anderen
Themen für die Zukunft offen.
Und dann ist da Milva. Nach Jahren gemeinsamer
Arbeit hat Milva alleine ihren Weg fortgesetzt. Wir haben uns nicht
verloren. Aber wir haben uns selten gesehen. Sie heute wiederzufinden
und mit ihr zusammenzuarbeiten war eine erneuerte Freude. Die Zeit
lässt jene reifen, die die Möglichkeit zu reifen haben.
Milva ist mir viel reicher erschienen, verfügbarer, mehr in
Frieden mit sich selbst. Auch sie ist, in dieser Hinsicht, neu.
Und der Abend bekommt durch sie und mit Brecht den Sinn der Entdeckung
"einer anderen Milva", die sich nicht selbst verleugnet;
diese Entdeckung jedoch verfeinert sie, lässt sie ein wenig
von Ferne betrachten, zuweilen ironisch, manchmal mit Zärtlichkeit.
Ihre Arbeit entsteht im Zeichen von Bescheidenheit und Bewusstsein.
Aber vor allem im Zeichen der Liebe für den Menschen und auch
für die Kritik. Milva bietet uns Frauenportraits: manche davon
sind entrechtet, Prostituierte, oder boshaft; andere wiederum sind
zärtlich, rebellisch oder verzweifelt sowie Figuren verzauberter
Frauen, die eine tiefe Zustimmung und großen Respekt verdienen.
Ich schätze diese nüchterne Milva sehr, die gleichsam
mit ihrem Selbstbild von früher kämpft. Es benötigt
viel Mut und erkämpfte Reife, um das zu machen, was sie macht.
Daher kann tatsächlich Einiges in dieser
Aufführung, die im Rahmen des BrechtFestivals unseres Piccolo
Teatro stattfindet, neu wirken und erscheinen. Falls uns auch der
Sprung in den Himmel nicht gelungen sein sollte - so haben wir es
wenigstens versucht. Wie viele meiner Generation. Im Grunde möchte
unser Abend Folgendes sagen: dass, wenn einem etwas nicht gelingt,
man weiter versuchen muss, es zu tun. Es gibt nichts Anderes außerhalb
dieses Planeten, sagt Brecht, und fügt hinzu: Und so ist es
gemacht. Es ist nicht gesagt, dass es immer so gemacht werden muss.
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